Grundwerte-Kommission ist auf dem richtigen Weg. Soziale Aspekte gehören weiter nach vorne!
Für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland steht viel auf dem Spiel. Wenn jetzt, in wirtschaftlich vergleichsweise günstigen Zeiten, nicht gehandelt wird, steht Europa bei künftigen Krisen vor dem Zerfall.
Deshalb begrüßen wir zunächst, dass der französische Präsident Emmanuel Macron mit seinen Zukunftsvisionen ein friedliches, geeintes Europa vorantreiben und Europa in den Fokus der europäischen und nationalen Aufmerksamkeit rücken will. Die deutsche Bundesregierung muss diesen Gesprächsfaden endlich aufnehmen. Das dröhnende Schweigen der Bundeskanzlerin verstößt gegen den Koalitionsvertrag und gefährdet die wirtschaftliche und soziale Entwicklung, auch in Deutschland.
Das Thema nahm deshalb sowohl auf dem AfA- als auch auf dem DGB-Bundeskongress vor wenigen Wochen breiten Raum ein.
Die SPD-Grundwertekommission hat erkannt, dass die nötige Antwort auf die Ansinnen Emmanuel Macrons nachdrücklich und sozialdemokratisch sein muss und vor allem auch, dass sie nicht mehr länger auf sich warten lassen sollte. In Zeiten starker nationalistischer Tendenzen innerhalb und außerhalb der EU kann nur eine freiheitliche, soziale und demokratische Europäische Union die Zukunft sein.
Dies gilt allerdings für die nationalen Politiken ebenso wie für die europäische Ebene. Die AfA kritisiert deshalb weite Teile der französischen sogenannten Reformpolitik. Umverteilung nach oben, Privatisierung und Abbau von Arbeitnehmerrechten passen nicht in ein gemeinsames Europa. Wer Beschäftigung und Investitionen, Finanzmarkt-Stabilität und gemeinsame Institutionen weiterentwickeln will, muss in seinem Land die Spaltung der Gesellschaft beenden anstatt sie zu vertiefen.
Reformen für ein soziales Europa
Macrons Liste für die Schlüssel zur Souveränität der EU ist in unseren Augen unvollständig. Die EU kann sich nur als eigenständig und vollständig betrachten, wenn sich die Erwartungen der dort lebenden Menschen nach einem guten, friedlichen und erfüllten Leben erfüllen können. Das ist überhaupt die ganze Rechtfertigung für das Projekt und die Idee der Europäischen Union. Dies gehört an die erste Stelle einer Antwort an Macron. Die soziale Säule der EU darf nicht weiterhin eine nachrangige Dekoration bleiben. Regelungen zum Mindestlohn, Standards für Arbeitnehmer/innen-Schutz, Elternzeit, hohe Mindeststandards für soziale Sicherung, integrative Arbeitsmarktpolitik, gerechte Besteuerung auch großer Kapitalerträge und Vermögen zur Entlastung der Arbeitseinkommen, Sicherung und Ausbau der Mitbestimmung sowie Stärkung der Tarifbindung und der Gewerkschaften gehören auf die europäische Agenda - und zwar nicht als Ersatz für nationale Regelungen, jedoch als Absicherung gegen Lohn- und Sozialdumping und gegen eine weitere Polarisierung von Regionen und Gesellschaftsschichten.
Den Forderungen der Grundwertekommission nach einer Europäischen Arbeitsbehörde (ELA) und einem EU-Arbeitsminister entsprechen der Beschlusslage der AfA und sind grundsätzliche Forderungen für ein stärkeres, gerechteres Europa. Wir fordern ausreichend Rechte und Personal für die ELA unter Einbeziehung der Sozialpartner.
Bevor es einen Minister für Euro-Finanzen gibt, wie Macron ihn fordert, fordert die AfA eine EU-Institution, ein Ministerium für Arbeit und Soziales. Deren Aufgabe wäre zunächst vor allem, die Einhaltung der Regeln zu überwachen und durchzusetzen, sei es durch direktes behördliches Handeln, vorrangig aber durch intensive Kooperation mit nationalen Institutionen. Die EU darf nicht nur Staatshaushalte und ökonomische Rahmendaten überwachen, sondern muss ihre Schutzfunktion gegenüber den finanziell Schwächeren wahrnehmen, auch dort, wo nationale Behörden bisher versagen. Zudem brauchen wir eine beobachtende und präventiv wirkende Einrichtung, die die enormen Umbrüche in der Arbeitswelt analysiert und europäische Gestaltungsmöglichkeiten aufzeigt.
Den Mindestlohnrahmen an mindestens 60% des Medianlohnes EU-weit zu orientieren ist ein guter Schritt in Richtung sozialer Konvergenz, also der Angleichung zwischen den Regionen und Mitgliedsstaaten. Die AfA fordert in Übereinstimmung mit der Grundwertekommission eine Angleichung an die jeweils höheren Standards.
Wir sind auch der Meinung, dass gleiches Geld für gleiche Arbeit am gleichen Ort gelten muss und begrüßen daher die Richtung, in die die Entsenderichtlinie soeben novelliert wird. Das Ziel ist und bleibt die gleiche Bezahlung und Behandlung der Arbeitenden am gleichen Ort, und zwar ohne jede Ausnahme.
Die AfA stimmt mit Präsident Macron überein, dass die Arbeitslosigkeit innerhalb der Eurozone und in der EU abgebaut werden muss. Der neoliberale Weg ist allerdings sowohl wirtschaftlich wie politisch gescheitert.
Arbeitsmarktreformen, wie sie Macron für Frankreich in seiner Rede in der Sorbonne als Beispiel von nationaler Verantwortung benannt hat, lehnen wir daher im Grundsatz ab.
Sowohl seine Durchlöcherung des Kündigungsschutzes, die Begrenzung der Höhe von Abfindungen, Einschnitte in die Renten, das Streichen von Stellen im öffentlichen Dienst, die Beschneidung von Mitbestimmung als auch das weitgehende Streichen der Vermögenssteuer sind weder mit den Interessen der Arbeitnehmer/innen noch mit sozialdemokratischen Grundwerten vereinbar, geschweige denn vor dem deutschen Erfahrungshintergrund empfehlenswert.
„Schnell umsetzbare Projekte: Europäische Agentur für radikale neuartige Innovationen, Europäische Universitäten“
Der Grundgedankte einer EU-weiten Agentur für „radikale neuartige Innovationen“ birgt manche Vorteile. Das Teilen von Wissen und Forschung führt zu optimalem Output. Forschung und Wissenschaft sind wichtige Pfeiler für den Wohlstand und den Fortschritt in unserer Gesellschaft. Derartige Innovationen haben jedoch auch das Potential, traditionelle Produktionsformen zu ersetzen oder massiv zu verändern. Dies hat erhebliche Konsequenzen für Arbeitsplätze. Daher spricht sich die AfA dafür aus, in einer möglichen Agentur für „radikale neuartige Innovationen“ insbesondere die Auswirkungen auf die Arbeit und den möglichen Strukturwandel in den Regionen erforschen zu lassen, um die Veränderungen vorausschauend gestalten zu können.
Wir stimmen mit Macron darüber überein, dass sich die digitale Revolution um „Talente“ dreht, also um qualifizierte Menschen.
Anders als Macron fordern wir allerdings, diese „Talente“ zu schaffen anstatt sie aus anderen Ländern heranzuziehen. Es gibt noch viel zu viele, auch gut gebildete Arbeitslose in der EU und Millionen junge und ältere Arbeitsuchende, die das reiche Europa selbst weiterqualifizieren muss.
Gemeinsame Afrika- und Europäische Nachbarschafts-Strategie, Entwicklungszusammenarbeit, Asyl- und Migrationspolitik
Die AfA stimmt mit der Position der Grundwertekommission überein und unterstützt im Besonderen den geforderten Doppelbeschluss, der einen Entwicklungs- und Investitionsfonds fordert, der Kommunen unterstützt, die freiwillig Flüchtlinge aufnehmen wollen. Die Kombination aus Geldern für die Integration der Geflüchteten und Gelder für die Weiterentwicklung der Kommunen kann zur besseren Integration und gleichzeitig zur Entwicklung der Kommunen beitragen.
Hinzufügend begrüßen wir Macrons Vorstoß für eine ausgedehnte Partnerschaft mit Afrika. Die Betonung europäischer Werte und Standards darf jedoch nicht kolonialen Charakter haben.
Wir betonen, dass die Summe der Entwicklungshilfe aus der EU im Gesamten nicht sinken, sondern eher steigen sollte und eine neue Qualität gewinnen muss.
Die Gelder sollten kontrolliert in Projekte fließen, die eine eigenständige wirtschaftliche Entwicklung, Bildung, Frieden und die Demokratie stärken. Wir lehnen es ab, dass internationale Konzerne Land in den Entwicklungsländern aufkaufen. Bei Investitionen in diese Länder muss darauf geachtet werden, dass die Bevölkerung den großen Teil der Belegschaft stellt, die fair entlohnt wird und Möglichkeit zur Bildung und Mitbestimmung bekommt.
Vor allem kommt es darauf an, die Entwicklungszusammenarbeit nicht durch Handelspraktiken, unkontrollierten und oft illegalen Kapitalabfluss, durch egoistische politische Einflussnahmen, Waffenexporte und militärische Einmischung, Fischereipolitik und andere altbekannte unfaire Praktiken aus Vergangenheit und Gegenwart zu unterlaufen.
Sozialökologischer Umbau
Klimaschutz ist eine der großen Aufgaben unserer Zeit. Die Grundwertekommission hat fünf wichtige Fragen für einen Dialogprozess vorgeschlagen, die unter sozialökologischen Aspekten auf EU-Ebene diskutiert werden müssen. Die Zukunft der Städte, Energiewende, Neuordnung des Verkehrs, Agrarwende und ökologische Industriepolitik müssen ökologisch und sozial umgesetzt werden. Saubere Luft und sauberes Wasser, ausreichende Ressourcen und eine intakte Natur sind die Voraussetzung allen Lebens und müssen gewährleistet werden.
Bei all diesen Themen ist es aber auch wichtig, sie in Anbetracht sozialer Auswirkungen zu behandeln. Wir fordern daher, bei Umstrukturierungen EU-weit mit den Gewerkschaften zusammen Konzepte zu erarbeiten, wie ein Strukturwandel durch Umbrüche in der Industrie, in der Stadtpolitik, im Verkehr, in der Energie- oder der Landwirtschaft möglichst sozialverträglich und zukunftsträchtig gestaltet werden kann.
Stärkung der Europäischen Währungsunion und Wirtschaftspolitik
Wir fordern Solidarität gegenüber den finanziell schlechter gestellten Teilen der Bevölkerung in Krisenländern und ein Ende der brutalen Sparpolitik, die zu massivem Abbau von Sozialleistungen, Löhnen, Sicherheit und Arbeitsplätzen geführt hat. In diesen Ländern braucht es Investitionsprogramme in Bildung und Infrastruktur, um Wirtschaftsleistung zu ermöglichen. Sparpolitik, Umverteilung und Privatisierung werden weder zu einer Verbesserung der wirtschaftlichen noch der sozialen und menschlichen Lage in diesen Ländern führen. Wir werden es nicht zulassen, dass der Eindruck erweckt wird, dass durch die europäischen „Rettungsmaßnahmen“ nebst ihren unsozialen Auflagen in erster Linie den Menschen geholfen würde. Es ging und geht um die Aufrechterhaltung des Finanz- und Bankensystems. Wir fordern eine wissenschaftlich fundierte Aufarbeitung der Verteilungswirkungen und strukturellen Folgen der Strategien und Maßnahmen der europäischen „Institutionen“, ehemals Troika.
Macron wünscht sich einen vereinfachten europäischen Binnenmarkt. Zu klären bleibt, was Vereinfachung konkret beinhaltet. Wir werden jedem Versuch widersprechen, Schutzregeln für Beschäftigte und Verbraucher aufzuweichen.
Der französische Präsident fordert außerdem, dass Handelsabkommen (wie TTIP, CETA) transparent verhandelt und umgesetzt werden sollten. Er wünscht sich, dass diese Abkommen den umweltschutzbezogenen Ansprüchen der EU genügen.
Diese Abkommen müssen auch den sozialen Ansprüchen der EU gerecht werden. Die Arbeitseinkommen und Arbeitsbedingungen dürfen nicht weiter unter Druck geraten, im Gegenteil: Wir müssen Wege finden, wie über Mindeststandards hinaus Handelspolitik die Situation der arbeitenden Menschen direkt verbessern kann. Dies gilt umso mehr, als wir in den letzten Jahrzehnten gelernt haben, dass vom Wachstum des Handels allein die Mehrheit der Bevölkerung auch in den Überschussländern nicht profitieren konnte.
Grundsätzlich gilt: wo auch immer Ministerien oder europäische Behörden entstehen, bedarf es demokratischer Kontrolle. So darf es keinen Finanzminister der Euro-Zone ohne parlamentarische Kontrolle, keine Arbeitsbehörde ohne legitimierte Kontrolle seitens Gewerkschaften und Arbeitnehmervertretungen geben.
Schlussbemerkung:
Dieses Papier ist eine Reaktion auf das oben genannte Papier der SPD-Grundwertekommission und beabsichtigt den angestoßenen Diskussionsprozess zu bereichern. Daher wurde auch davon abgesehen, alle Positionen zu wiederholen. Die EU ist ein wichtiges, schützenswertes Gut, dass beständiger Verbesserung bedarf. Die SPD muss eine treibende Kraft für diese Verbesserungen darstellen, um Frieden, Gerechtigkeit und Wohlstand für alle zu erreichen. Auch im Rahmen des Erneuerungsprozesses der SPD muss die Partei wieder zu ihren Europäischen Wurzeln finden und das Thema soziales Europa als Priorität Kennzeichen.
AfA-Bundesvorstand